Erntebrauchtum Südhessen: Vortrag von Thomas Maul am 26.9.

"Die erste Hand für den Schneck und die Schneckin, die zweite für den Erdfloh und die Erdflohin, die dritte für uns alle" - so säte man früher Getreide aus. In seinem Vortrag bei der 74. Neustädter Tagung des Breuberg-Bundes (26. September 2025) stellte Thomas Maul Erntebräuche aus Südhessen vor. Wichtigste Quelle dafür sind Dorfältestenbefragungen, wie sie vor der Entstehung von Meinungsforschungsinstituten durchgeführt wurden. In den Jahren 1943 bis 1945 führte der Heppenheimer Heimatforscher Dr. Heinrich Winter an 250 Orten in der Region Starkenburg Befragungen der Dorfältesten durch.

In seinem Nachlaß waren über 200 Ordner mit Forschungsmaterial, etwa 60 000 Fotos und 15 000 Diapositive (Wikipedia). Nach dem Tod von Winters Frau Ottilie 1988 gelangte der Nachlaß ins Hessische Staatsarchiv Darmstadt. Er ist nicht digitalisiert und muß vor Ort am Original studiert werden. Thomas Maul hat sich die Mühe gemacht, zu einigen Themen zu forschen. 2018 erschien sein Aufsatz "Heit iss Kerb unn moije iss Kerb - Über die Kerb und deren Figuren im Lautertal und im Kreis Bergstraße", und nun stellte er die Erntebräuche vor, wie sie in den Jahren 1943/44 von den damaligen Dorfältesten berichtet wurden. Diese Menschen wurden um 1860 geboren, also kurz nach Einzug der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Strukturwandel in der Landwirtschaft. Im Odenwald konnte jedoch durch Dr. Heinrich Winters Dokumentation noch das landwirtschaftliche Leben vor diesem Strukturwandel erhalten werden, da es noch einige Jahrzehnte dauerte, bis Landmaschinen, Arbeitsteilung und Kunstdünger alte Traditionen ablösten.

Man säte noch mit der Hand - ich selbst habe als Kind noch Bauern gesehen, die mit dem umgebundenen Saatguttuch über den Acker schritten und von Hand säten. Das war in Lämmerspiel bei Offenbach, also durchaus in direkter Nähe zur Urbanisierung. Der Umbau der Landwirtschaft war in den 1960er Jahren dort noch nicht überall angekommen.

Thomas Maul referierte nicht nur über die Art und Weise, wie man säte und erntete, er hatte auch das entsprechende Gerät mitgebracht.

 

von links: Sense (vorsicht scharf, mit Sackleinen umwickelt), Zinkenreffsense, Siebreffsense. Das halbhohe Gerät (2. v. r.) ist eine rheinländische Hausichte, eine Kniesense, die im Odenwald ungebräuchlich war. Ganz rechts ein Rechen. Diese Geräte wurden zum Beispiel in Schannenbach in den Wohnhäusern hergestellt, lesen Sie dazu bitte: Schannenbach: alte Berufe und das Leben in einem kleinen Dorf
Auf dem Podest sieht man u.a. das Schloggerfaß. So nannte man im Odenwald das Horn, in dem Wasser für den Wetzstein mitgeführt wurde.

 

Getreide ist ein Urbaustein für das Leben: es wurde daher seit vielen Jahrtausenden hoch geschätzt. Die Sumerer (älteste Schriftkultur der Welt, seit etwa 3500 v. Chr. in Südmesopotamien) hatten für Getreide den Begriff "Schön". Sie schrieben mittels Keilschrift. Es wurden mit einem keilförnigen Griffel Zeichen in weiche Tontäfelchen gedrückt. Für „Schön“ nahmen sie das Zeichen, das sich aus „Gerste“ und „Milch“ zusammensetzte. Die Lebensbausteine Kohlehydrate und Proteine also erzeugen Schönheit. (Dreiteilige Dokumentation auf ARTE, in der Mediathek zu finden: “Vom Schreiben und Denken - Die Saga der Schrift" und “Wie sich die Schrift entwickelt hat“)

Wichtig war zu allen Zeiten, möglichst alle Körner vom Acker in die Scheune zu bringen. Das ging nicht mit allen Getreidearten. Dazu wird in Lauresham geforscht - bitte lesen Sie dazu "Lauresham: das Wölbäcker-Projekt". Dinkel beispielsweise verliert im reifen Zustand bei der kleinsten Berührung die Körner, er kann daher nicht mit der Sense geerntet werden, sondern muß sorgfältig und mühselig mit der Sichel geschnitten werden. Aus der Not eine Tugend machte man, indem man Dinkel unreif erntete. So erzielte man gute Erträge, mußte die grünen Körner jedoch darren - es wird Grünkern daraus gemacht. 

Lesetipp: über Getreide vom Acker bis in die Mühle habe ich für Sie viel Wissenswertes in meinem Jahrbuch No. 4 / 2024 zusammengetragen: "Spinnstubb 2.0 - Märchen Mühlen Mahlzeit" - erhältlich direkt bei mir! Marieta Hiller, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.!

"Die Uffkleckern": mit dieser Berufsbezeichnung benannte man die Frau, die hinter dem Senser die abgefallenen Halme zusammenlas und aufs Abgemähte legte. Letzteres hieß Gelege, woraus Ourewällisch Kleck wurde. Folglich war die Leserin die Uffkleckern.

Der Spruch mit der ersten, zweiten und dritten Hand zeigt, womit man früher beim Getreideanbau zu kämpfen hatte. Doch nicht nur beim Säen hatte man einen Spruch, sondern auch beim Ernten: "die erste Garbe für die Ratte, die zweite für die Maus, die dritte für uns alle". Auch die Lagerhaltung brachte viele Verluste mit sich. 

 

Und man pflegte zahlreiche Bräuche rund um die Ernte. Zuvor begrüßte man am Peterstag (22. Februar) mit dem Wäljern das Frühjahr:  man rollte sich übermütig den Hügel hinunter. War das Getreide über Sommer gut gewachsen, mußte man sich vor der Roggenmuhme, auch Getreidemutter, in Acht nehmen. Das erzählte man vor allem den Kindern, damit sie nicht im hochstehenden Getreide spielten - was macht mehr Spaß, als sich im Feld kleine Höhlen zu bauen! Wir hatten als Kinder ganze Systeme aus Gängen und Höhlen, der arme Landwirt hat uns sicherlich verflucht. Die Roggenmuhme hat uns aber nicht geholt...

 

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