Erzählzeit: Mundartmärchen in der MPS

Die Erzählzeit  ist ein festes Unterrichtsangebot in den 1. Klassen der Mittelpunktschule Gadernheim (MPS), das ich seit vier Jahren übernommen habe. Es geht um das Erwerben von Sprachkompetenz. Das heißt die Kinder erzählen das Märchen der Vorwoche selbst nach, bevor es ein neues Märchen gibt. Daher ist es auch sinnvoll in Hochdeutsch zu erzählen.

Dieses Jahr entstand eine tolle Idee für Mundart-Kompetenz: die beiden 1. Klassen planten im Mai einen Besuch im Haus Elisabeth in Gadernheim ("Immer wieder kommt ein neuer Frühling - die Erstklässler der MPS zu Besuch im Haus Elisabeth in Gadernheim" und dort u.a. "mer sin all vum Ourewoald" singen. Daher wurde das "Ourewoald" vorher in den Klassen geübt (und die Lieder natürlich auch). Das habe ich aufgegriffen und vorgeschlagen, mal ein Mundartmärchen zu hören.

Fritz Ehmke von den Mundartfreunden Südhessen stellte dafür das Märchenbuch „Es wår emol, Märche in Südhessischer Mundård“ zur Verfügung und zusätzlich eine DVD mit den Märchen. Da es gerade Osterzeit war, nahmen wir das Märchen Has un Ijel von Edith Keil. Zusätzlich erzählte ich das Märchen noch in Hochdeutsch plus mein eigenes Märchen vom Osterdrachen.

Daraufhin meldete sich Mundartfreundin Christine Hechler, daß sie gerne auch ein Mundartmärchen erzählen würde, und das war der Auslöser für die Idee der Veranstaltung am 24. Juni. Die Schulleitung und die Lehrerinnen haben das Projekt sofort begeistert aufgenommen und unterstützt.

Foto: Ehmke - von links: Marieta Hiller, Edith Keil, Fritz Ehmke, Christine Hechler

Die Veranstaltung in der Aula erfolgte in zwei Gruppen: in der ersten Stunde die 1. und 2. Klassen, und in der zweiten Stunde die 3. und 4. Klassen. Die jetzigen 4. Klassen waren ja meine ersten (zur Pandemiezeit mit Masken und Abstand) Märchenerzählen mit Maske ist eigentlich ein Unding, aber so konnte es wenigstens stattfinden. Sogar die in jeder Klasse vorkommenden bekannten unruhigen Kinder lauschten still und konzentriert. Auf dem Schulhof werde ich schon immer von den größeren Kindern immer wieder gefragt "wann kommst du denn wieder mal zu uns?" Daher habe ich das sehr sehr gerne gemacht und es ist tatsächlich auch bei den älteren Kindern sehr gut angekommen.

Am Ende der Stunde bekamen die Erstkläßler ihre Märchenmappe wie vorher die anderen Klassen. Darin ist der komplette Erzählzeit-Ablauf zu finden. Die Märchen von Grimm oder Andersen kann sich jedes Kind in eigenen Märchenbüchern vorlesen lassen - oder später selbst lesen. Die unbekannteren Märchen wie "Wem gehört das Wasser" aus Afrika, "der Kloß" aus der Ukraine oder meine selbsterfundenen Märchen sind vollständig abgedruckt. Lesen Sie dazu auch über mein sehr aufschlußreiches Experiment mit ChatGPT!

In diesem Jahr haben wir sogar ein Experiment gemacht: ein Märchen hat bestimmte Rahmenbedingungen. Es muß eine Hauptperson geben, Zeit und Ort müssen diffus sein (vor langer langer Zeit, hinter den sieben Bergen), nach der Beschreibung der Ausgangssituation muß ein Problem auftreten (ein Hindernis, die böse Stiefmutter, ungerechte Behandlung etc). Nun folgt der Erzählweg: was geschieht unterwegs? Und endlich die wichtige Frage: Was geschieht am Ziel? Daraufhin lösen sich alle Schwierigkeiten auf, es kommt zu einer guten Lösung. Wichtig ist außerdem, daß der Erzählweg durch Magie geprägt ist. (Lesen Sie ganz unten im Exkurs, warum die Kinder mit dem Märchen vom Kloß nicht zufrieden waren!)

Mit diesen vorgegebenen Rahmenbedingungen begannen die Kinder nun, Sätze zu bilden. Diese wurden an die Tafel geschrieben und zum Schluß vorgelesen. Und siehe da: es waren zwei richtige Märchen entstanden, eins in der 1A und eins in der 1B!

Das selbst erdachte Märchen: Erzählzeit mit Marieta Hiller am 21. Januar 2025

Es gab einmal einen sehr klugen Menschen, der einen Fantasyroman geschrieben hat (Terry Pratchett, „Total verhext“ 1991). Darin geht es um Märchen, und er hat gesagt daß die Märchen nicht erst von den Menschen erdacht werden. Sondern sie sind schon immer da. Und immer wenn ein Märchen erzählt werden muß, dann ist es - schwupps - zur Stelle! Wir haben das gemeinsam ausprobiert, und das ist dabei herausgekommen:

Klasse 1A: „die tanzenden Skelette“

Es war einmal vor langer langer Zeit mitten im tiefen Wald, und zwei Kinder gingen dort entlang. Emma und Paul wollten Pilze sammeln. Sie trafen auf eine alte Frau, die war aber eine Hexe.
Die Hexe sagte, sie wünsche sich schon so lange neue Kinder, aber weil sie so gruselig aussieht, laufen alle Kinder immer wieder weg. Paul und Emma aber fürchteten sich nicht und gingen mit der Hexe in ihr Haus. Dort warf die Hexe Emma und Paul durch eine Falltür in den Keller.
Da gab es ganz viele tanzende Skelette, und plötzlich fiel ein Licht auf den Boden, dort ringelte sich eine Schlange. Als Emma und Paul ihr einen Apfel gaben, fing die Schlange an zu sprechen: „Abra Ka Dabra“ - und plötzlich waren die Skelette wieder tanzende Kinder, und die Hexe konnte nicht mehr zaubern, weil ihr Hexenbesen auch zu einer Schlange wurde.
Da liefen alle schnell nach Hause, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Klasse 1B: „Die Spinne und das Gespenst“

Es war einmal vor langer langer Zeit auf einem Schloß, dort lebte eine Prinzessin, der war es immer langweilig. Eines Tages fand sie im Kellerverlies eine Ritterrüstung. Plötzlich begann die Rüstung zu tanzen, und ein Gespenst kam herausgekrochen. Huuuuhuuuuuuuu
Dann kam auch noch eine Spinne herausgekrabbelt, die sich vor dem Gespenst fürchtete.
Sie konnte sprechen und sagte zur Prinzessin: „nimmst du mich auf die Hand, und wir werden Freunde?“ - die Prinzessin fürchtete sich jedoch, und plötzlich wurde das Gespenst immer größer und heulte schaurig. Aber die Spinne jagte mutig das Gespenst durchs Schlüsselloch aus dem Verlies.
Die Prinzessin war froh und nahm nun die Spinne auf die Hand und sagte „komm laß uns Freunde werden“. Da machte es Pufffff und die Spinne war ein wunderschöner Prinz!
„Ich war viele Jahre mit dem Gespenst in der Rüstung eingesperrt, bis du mich befreit hast. Eine böse Hexe hat mich in eine Spinne verzaubert und sich selbst mit mir darin eingesperrt. Und dann wurde aus der Hexe ein Gespenst, aber das habe ich jetzt endlich verjagt!“
Die Prinzessin nahm den Prinzen zum Mann, und beide lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!

Beide Märchen entstanden als Gemeinschaftsaktion. Es wurde über die einzelnen Schritte abgestimmt. Aber die Märchen lagen trotz allem „in der Luft“...

der Kloß - ein Märchen, das in  der Ukraine und in Weißrußland erzählt wird - und warum die Kinder der ersten Klassen im letzten Jahr nicht mit seinem Ende zufrieden waren

Es waren einmal ein Großväterchen und ein Großmütterchen. Eines Tages sagte der Mann zu seiner Frau:
»Geh, Alte, fege den Schrank und schabe den Kasten aus, ob du nicht noch etwas Mehl für einen Kloß zusammenbekommst.«

Da nahm die Alte ein paar Hühnerfedern, fegte den Schrank und Kasten aus und brachte auch wirklich noch zwei Handvoll Mehl zusammen. Das Mehl vermischte sie mit saurer Sahne, machte daraus einen Kloß, weich und rund und nicht zu groß. Sie buk ihn in brutzelndem Rübenöl und stellte ihn dann zum Kühlen auf die Fensterbank.

Da lag er nun, der Kloß - weich und rund und nicht zu groß. Und die Zeit wurde ihm so lang - da fing er zu rollen an: rollte vom Fensterbrett auf die Bank, rollte von der Bank auf den Boden, rollte über die Bodendielen zur Zimmertür, sprang - hops - über die Schwelle, rollte durch den Flur, zur Haustür hinaus, über den Hof, rollte auf und davon. Und wie unser Kloß so rollte und rollte, kam ein Häschen angehoppelt: »Hör doch, Kloß! Kloß, bleib stehen! Kloß, ich will dich fressen!«

»Nein, friß mich nicht, Hase. Ich singe dir auch ein Liedchen vor: 
Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.
Aus dem Schrank gefegt,
aus dem Kasten geschabt,
mit Fettmilch gemischt
und in Rüböl gebacken.
Stand am Fenster zum Kühlen,
und keiner kann mich kriegen.
Großväterchen kriegt mich nicht,
Großmütterchen kriegt mich nicht,
und du, Häschen, kriegst mich auch nicht!

Und ehe der Hase sich versah, war der Kloß weitergerollt.
Da stand auf dem Weg der Wolf, der große graue Wolf. »Hör doch, Kloß! Kloß, bleib stehen! 
Kloß, ich will dich fressen!« »Nein, nein. Du frisst mich nicht, grauer Wolf. Ich singe dir auch ein Liedchen vor: 

Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.
Aus dem Schrank gefegt,
aus dem Kasten geschabt,
mit Fettmilch gemischt
und in Rüböl gebacken.
Stand am Fenster zum Kühlen,
und keiner kann mich kriegen.
Großväterchen kriegt mich nicht,
Großmütterchen kriegt mich nicht,
das Häschen kriegt mich nicht,
und du großer grauer Wolf, kriegst mich auch nicht!

Und schon war der Kloß wieder auf und davon.
Da kam aus dem Wald der Bär, der brummige braune Bär: »Hör doch, Kloß! Kloß, bleib stehen! Kloß, ich will dich fressen!« 
»Nein, nein, nein. Du frisst mich gewiss nicht, alter Brummbär. Aber ich singe dir ein Liedchen vor: 

Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.
Aus dem Schrank gefegt,
aus dem Kasten geschabt,
mit Fettmilch gemischt
und in Rüböl gebacken.
Stand am Fenster zum Kühlen,
und keiner kann mich kriegen.
Großväterchen kriegt mich nicht,
Großmütterchen kriegt mich nicht,
das Häschen kriegt mich nicht,
der große graue Wolf kriegt mich nicht,
und du alter brauner Brummbär, kriegst mich auch nicht!

Und kaum hatte er fertig gesungen, war er auch schon weg.
Da saß am Wegrand der Fuchs, der schlaue rote Fuchs: »Kloß, lieber Kloß! Wo willst du denn so eilig hin?« 
»Ich rolle in die weite Welt hinaus!« »Kloß, lieber Kloß, singe mir doch ein Liedchen vor.« 
Und da sang der Kloß: 

Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.
Aus dem Schrank gefegt,
aus dem Kasten geschabt,
mit Fettmilch gemischt
und in Rüböl gebacken.
Stand am Fenster zum Kühlen,
und keiner kann mich kriegen.
Großväterchen kriegt mich nicht,
Großmütterchen kriegt mich nicht,
das Häschen kriegt mich nicht,
der große graue Wolf kriegt mich nicht,
der alte braune Brummbär kriegt mich nicht,
und du, schlauer Rotfuchs, kriegst mich auch nicht!

»Wie schön du singst!« 
sagte da der Fuchs, »leider höre ich nicht so gut. Setze dich doch auf meine Schnauze, Kloß, und singe mir dein Liedchen noch einmal vor, nur etwas lauter.« Und der Kloß sprang dem Fuchs flink auf die Schnauze und sang noch einmal: 

»Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.«

Und er sang es aus voller Kehle. Da sagte der Fuchs: »Kloß, lieber Kloß, setze dich doch auf meine Zunge und singe dein Lied zum letzten Mal!« 

Da sprang der Kloß dem Fuchs auf die Zunge: 
»Bin ein Kloß, ein schöner Kloß...“

Da schnappte der Fuchs »haps« - und weg war der Kloß.

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Ihr wart so empört darüber, daß dieses Märchen kein gutes Ende hatte, daß ich eins geschrieben habe für euch: hört euch diesen Schluß einmal an!

»Bin ein Kloß, ein schöner Kloß...“

Da schnappte der Fuchs »haps« - und weg war der Kloß. 

Aber

Aber

Aber der Fuchs hatte nur seine Zunge im Maul - der Kloß war tatsächlich weg:
von ferne hörte man ihn noch singen

Bin ein Kloß, ein schöner Kloß.
Weich und rund und nicht zu groß.
Aus dem Schrank gefegt,
aus dem Kasten geschabt,
mit Fettmilch gemischt
und in Rüböl gebacken.
Stand am Fenster zum Kühlen,
und keiner kann mich kriegen.
Großväterchen kriegt mich nicht,
Großmütterchen kriegt mich nicht,
das Häschen kriegt mich nicht,
der große graue Wolf kriegt mich nicht,
der alte braune Brummbär kriegt mich nicht,
und du, schlauer Rotfuchs, kriegst mich auch nicht!
Ich rolle und rolle und rolle hinaus in die weite Welt
und niemand, aber wirklich niemand soll mich fressen!

Februar 2024

 

 

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